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Leseprobe

 Roman "Lebensborn Pommern"

Die Reise hatte die Kleinen erschöpft. Als man ihnen spontan etwas zu trinken anbot, kam die Gruppe in große Bewegung. Die Kinder überwanden ihre Scheu. Sofort wurden Trinkgefäße geordert und die Kleinen löschten ihren unbeschreiblichen Durst.

Dass sie zerzaust aussahen und schmutzig, dass die Armen allesamt Winzlinge in der Erwachsenenwelt und in allen ihren Angelegenheiten hier, wie an jedem beliebigen Ort der Welt, Schutzbefohlene waren, öffnete sogleich ein jedes rechtschaffene Herz. Die Kinder erregten das heftigste Mitgefühl der Frauen. Die Ankunft aus Kalisch musste ihnen im Gedächtnis bleiben, dieser Durst, diese Hilflosigkeit und Angst. Immer wieder erreichten den Doktor Fragen, wie man den deutschen Waisen aus dem Warthegau helfen kann.

Die Oberschwester nahm sich der Sache resolut an. Zunächst löste sie die Situation vor dem Haus auf und führte die Gruppe zu ihrem bestimmten Ort im Heim Pommern, wo man sie bereits erwartete. Und allen zur Warnung und zur Erklärung gab die Oberschwester in den nächsten Tagen heraus, dass man am Beispiel dieser Kinder gut sähe, wozu die Polen mit ihrem Hass auf die Deutschen fähig wären.

„Von der Straße musste unsere Polizei die aus Heimen verstoßenen Deutschkinder auflesen. Manche wurden aus den Fängen übler Verbrecher, die deutsche Kinder als Geiseln nehmen, befreit.“

Käthe erstarb das Willkommenslächeln auf ihrem Gesicht und auch Gertrud wurde auf die untrüglichen Zeichen der Verwahrlosung aufmerksam. Am meisten wunderte sie sich, dass sich die Begleiterinnen aus Kalisch nicht noch einmal von den Kindern verabschieden wollten.

Es war keine Zeit für Erörterungen und Emotionen. Gertrud und Käthe setzten die Kinder auf die Stühle vor dem improvisierten Puppentheater. Die Frauen merkten, dass die Kinder nicht neugierig und erwartungsvoll waren. Sie freuten sich nicht.

Hinter der Wand für die Puppenspieler fragte Käthe ganz aus der Fassung: „Was haben die mit den Kindern gemacht?“

Aber Gertrud konnte dazu auch nur mit den Achseln zucken.

„Der Kasper muss jetzt zum Publikum sagen, dass das Krokodil harmlos und ungefährlich ist.“

„Ja. Gertrud, wir ändern das Programm. Das Krokodil darf weder zuschnappen noch beißen.“

„Gut, dass sie jetzt eine Weile nur die Handpuppen sehen. Vielleicht tauen sie auf.“

Aber während sich nun der Kasper den Bauch vor Heiterkeit klopfte und laute wie engagierte Fragen ans kleine Publikum stellte, um die Kinder einzubeziehen, blieb es still, so still, dass selbst der Kasper weinen musste und dem Krokodil die Stimme wegblieb.

Sie brachen das Spiel ab und gingen nach vorn. Die meisten Kinder hatten ihre Stühle verlassen und sich leise und gierig über den Blechkuchen hergemacht.

„Lass sie! Lass sie Gertrud! Es geht ihnen nicht gut. Das wird nicht leicht, an sie heranzukommen.“

Vielleicht, dachte Gertrud, kann ich sie mit der Zauberei in Staunen versetzen. Dazu machte sie keine Ansage, sie legte mit kleinen Taschenspielertricks los. Als ihr endlich ein paar neugierige Blicke folgten, legte sie langsam das prächtige Zauberkostüm mit den vielen Sternen und den unten weit auslaufenden Ärmeln an. Sie komplettierte ihren Aufzug zu Rüdigers besonderem Entzücken mit dem hohen und spitzen Hut.

Die Kinder beobachteten Gertrud nun sehr genau und ließen die seltsame Erscheinung nicht aus den Augen. Der Trick mit dem Kaninchen, das natürlich kein echtes war, schlug fehl, aber es schien niemand zu stören.

Zaubern stand bei ihnen sehr hoch im Kurs. Nur ein Zauberer konnte noch ihre unmöglichsten und wichtigsten Wünsche erfüllen.

Zur Einleitung der nächsten Nummer, die aufs Verschwinden eines Gegenstands abzielte, hantierte Gertrud ablenkungshalber mit ihrem Zauberstab, der schließlich auf dem Höhepunkt des Spektakels kräftig durch die Luft zischte.

Das war die Stelle, an der Karol, der sich unter einem Tisch verkrochen und unsichtbar gemacht hatte, nach rückwärts und ziemlich schnell in Richtung Ausgang verschwand. Er ging stiften, ohne dass es jemand bemerkte. So eine Sache mit zischenden Stöckchen erlebt man lieber nicht noch einmal. Auf diesen Trick, mit oder ohne Hut, wollte er nicht wieder hereinfallen. Als Gertrud die Kinder am großen Tisch zählte, war Karol verschwunden.

 Sie suchten ihn auf der Toilette, im Garten und hinter dem Haus. Zuerst nahmen sie es leicht. Es gab keinen Grund, etwas Schlimmes zu befürchten und es galt als unumstößliche Tatsache, gesuchte Kinder tauchten rasch wieder auf. Sie hatten sich, wenn so etwas passierte, mal eben verlaufen und machten alsbald mit Geschrei auf sich aufmerksam. Zuerst suchte Gertrud im Gelände, dann Käthe. Sie wechselten sich ab. Jetzt war es aber an der Zeit, die Sache ernster zu nehmen. Sie suchten bereits eine geschlagene Stunde im engeren Umkreis.

Endlich zogen sie in Erwägung, dass der Kleine den Absperrbereich über eine Gartentür verlassen haben konnte, ohne von außen wieder hereingekommen zu sein. Da fehlte nämlich die Klinke, die man durch einen Knauf ersetzt hatte.

Für den erweiterten Suchradius bedeutete das, sie benötigten Verstärkung. Sie mussten die Heimleitung alarmieren. Theoretisch hätte Karol von der Gartentür einen Weg ins Haupthaus, aber auch in den Luisenpark einschlagen können. Warum sollte der Kleine, dachte Gertrud, den einen Teil des Heims verlassen, um den anderen, der genauso fremd für ihn war, aufzusuchen. Mit Beunruhigung wähnte sie ihn also auf dem Pfad zum See mit dem winkenden Schilf und den von Fröschen bevölkerten Seerosenblättern. Da gab es unterwegs auch tausend verlockende Verstecke hinter uralten Bäumen und zwischen blaubeerbewachsenen Hügeln.

Der Doktor hatte das Haus verlassen. Daher führte die Oberschwester das Regiment. Gertrud musste ihr den Vorfall melden. Nach den gültigen Regeln lagen nun alle weiteren Vorkehrungen und Maßnahmen in ihrer Hand. Gertrud wurde dem Suchtrupp zum See zugeteilt, Käthe kümmerte sich weiter um die Kinder. Das Fest hatte eine jähe Abkürzung gefunden.