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Leseprobe

Roman "Tango Vicioso. Der Übergangsmann"
(erscheint im Mai 2024)

 

Auszug aus dem erstes Kapitel:

 Die kleine Greisin Monique war zweimal am Saaleingang vorbeigelaufen, weil sie träumte. Angenehme Vorstellungen hoben sie über die Steifheit des Alters hinweg und brachten ihren Erinnerungsmotor in Schwung. Sie hatte sich nämlich einen ihrer Tango Argentino über Kopfhörer gegönnt, bevor sie ihr Zimmer zum Essengehen verließ. Der flotte Neo-Tango entzündete ihre Fantasie und versetzte sie auf dem Flur in innere und äußere Bewegung.

Sie straffte sich und richtete sich auf, als würde sie in Tango-Tanzhaltung von einer Seite des Parketts auf die andere schweben. Das sah übermütig und jugendlich aus.

 Mo stürzte sich in ein Abenteuer. Ein atemberaubendes Gefühl von Unabhängigkeit pochte im Takt und es kitzelte sie vor Aufregung im Bauch. Sie lief also rasch, ein Fallschirmspringer hätte vor dem Absprung auch nicht gezögert. Und wieder gab es ein Überraschungsmoment, weil Mo kurzsichtig war und immer erst auf dem letzten Meter ihr Gegenüber erkannte. An Umkehr war nicht mehr zu denken. Denn die Dame ihrer Wahl hatte sich schon erhoben und zog ihr Kleid glatt. Sie lächelte Mo an und zuckte wie zur Entschuldigung mit den Achseln, weil sie größer als die Stürmerin war, die mit ihr tanzen wollte, aber auch, weil sie hinzufügen musste, dass es ihr an hinreichender Tanzerfahrung fehlte. Beides war für Mo kein Problem. Sie fühlte sich gut geerdet und wollte ihren Schwerpunkt beim Führen der größeren Frau ausspielen, ja es war ihr sogar angenehm, dass sie sich ein wenig überlegen fühlte, da die Folgende aus ihrer Unerfahrenheit kein Geheimnis gemacht hatte.

Sie näherten sich vorsichtig und schickten sich in eine Umarmung. Mo betörte der Orangenduft mit einer Note von Zimt, den die Dame verströmte, und sie atmete tief. Der linke Arm der Tanzpartnerin berührte ihren Hals, sie spürte die Fingerspitzen. Die andere Hand nahm Mos Angebot an und suchte Kontakt. Es fühlte sich anschmiegsam an. Sie konzentrierten sich und tauchten behutsam in die Wellen des Tango Argentino, der sie erreichte und ihre Füße, ihre Körper und Gedanken umspülte. Sie waren für wenige Minuten eine Verbindung eingegangen. Mo wollte mit ihr in der Musik ertrinken. Dann raffte sie sich als Führende auf und sendete unsichtbare Impulse. Sie übernahm die Regie und den Raum, der ihnen gehörte. Die Frau in ihrer Umarmung ließ innerlich los und das löste ein Glücksgefühl in Mo aus, weil sich die Folgende anvertraute.

Mo ließ nun die Beine ihrer Partnerin fliegen, eine Sacada hatte sie wunderbar vorbereitet und zur Wirkung gebracht. Voller Selbstvertrauen gab sie Schub in die Richtung, in der sie tanzten. Ihre Umarmung wurde enger. Ein Blick ins Gesicht der anderen verriet, dass sie die Augen geschlossen hielt. Sie hatte die Kontrolle abgegeben. Mo spürte die Fingernägel auf ihrem Nacken und das inspirierte sie, etwas ganz Besonderes aus diesem Tango zu machen.

                              

Eine Pflegerin hakte die tagträumende Monique unter. Das beendete die Tango-Endlosschleife auf dem Flur und sie führte Monique in den Speisesaal hinüber. Dort wurde sie bereits erwartet und freundlich begrüßt.   

Denn der Tisch im Seniorenschlösschen „Zur Heiterkeit“, an dem sie Platz nahm, war für eine kleine Gemeinschaft reserviert, die aus fünf Personen bestand.

Keiner störte die Hochbetagten, die hier ihre Mahlzeiten einnahmen, durch Zwischenrufe oder ungebetene Gesellschaft. Die Senioren, die an diesem Tisch saßen und ihre Lebenserinnerungen austauschten, mussten nicht immer darüber sprechen. Manchmal sahen sie sich bedeutungsvoll an. Oder ein wissendes Lächeln ging um. Dann musste einer von ihnen eine Geschichte aus den Tangotanztagen erzählen. Hin und wieder stritten sie, aber selten, und diskutierten spitzfindige Nebensächlichkeiten.

Am innigsten strahlte es aus dem Kreis, schwappte auf das Hauswesen über, so empfanden es die zur Gesellschaft bestimmten Diener und Pfleger, wenn die vier lachten und über ihren Tango sprachen.

An diesem Tisch wurde der Reigen vergangener Jahre und Jahrzehnte erörtert, nachgelebt und erspürt. Tränen mischten sich bei und versalzten zuweilen die Erinnerungssüße, weil das, was ihnen im Rückblick wichtig erschien, an bedauernswerter Kürze und Endlichkeit litt.

Sie kannten sich von früher und sie kannten sich gut. Es wurde also auch ausgeteilt und eingesteckt, denn man hatte sich durch Liebe und Leidenschaften hier und da leichtfertig oder alternativlos verletzt.

Da spannten vier von fünf Senioren, denn Julia war dauerhaft abwesend, einen Bogen der Weisheiten, ein Regenbogen am Ende des Lebens, das ihnen nicht immer als köstlicher Schauer niedergegangen war. Sie wussten, dass ihr Zusammensein ein letztes und flüchtiges Zeichen bedeutete. Vier Leben, die sich aus Erlebnissen speisten, die, wie ich heute weiß, farbig und einzigartig waren.

Ein Mann befand sich darunter, die Hauptperson, und drei Frauen, die sich nach Aussehen, Charakter und ihren Lebensläufen stark unterschieden. Für die abwesende Julia war stets ein Stuhl reserviert.  

Der Alte bekäme von mir im Regenbogen die Farbe Blau.

Sie waren, wie viele Leute ihres Alters, schwerhörig geworden, mit Ausnahme von Marie, weil die schon seit ihrer Geburt gehörlos war. Ich erwähne das nur, weil sie umso lauter sprachen und ich als Gesellschafter und Diener im Seniorenschloss nicht anders konnte, als ihren Gesprächen und Geschichten vom Berliner Tango der 2020er Jahre zu lauschen.

An den Alten, diesen Hahn im Korb, hatte ich mich erst ordentlich reiben und gewöhnen müssen. Der sagte nun auch nicht mehr viel und ich war überrascht, dass er überhaupt noch einmal durch Inspiration der Damen von den Toten auferstanden war.

Der letzte Schlagfluss hatte seine rechte Seite gelähmt. Seitdem sprach er nur selten. Der Mund hing ihm schief. Aber die Augen, das schwöre ich, diese lebendigen Augen, haben mich eingefangen und ermuntert, ihm das Leben im Haus so angenehm wie möglich zu machen. Heute meine ich, wir wurden sogar Freunde.

Als er im Haus ankam, war er noch ziemlich fit und ein Schelm, immer durstig danach, Geschichten zu erzählen. Selten ist mir ein ehrlicherer Mensch begegnet. Zuerst bin ich darauf hereingefallen und fand alles sympathisch, wunderbar und überzeugend, was er mir erinnerungshalber über sein Tango- und Liebesleben darlegte. Da wusste ich noch nicht, dass offenherzige Leute genauso irrlichtern können wie ich, damals ein junger Mann ohne Orientierung und gefestigte Lebenserfahrung.  

Ich war nach den Erörterungen der Damen, die Gehörlose wurde von einer Tischgenossin, die Danae hieß, in Gebärdensprache übersetzt, so einigermaßen im Bilde über die anstößigen Geschichten, die man über den Alten in Fortsetzungen und Wiederholungen erzählte. Es handelte sich um amouröse Verstrickungen der Farbe Blau mit den anderen Farben des Regenbogens.

Zu meiner Überraschung, sagen wir ruhig zu meinem Entsetzen, entschuldigten das die Damen augenzwinkernd als eine schillernde Facette der vielen Liebeswirklichkeiten.

Zum Zeitpunkt meiner Beobachtungen reizte mich das und forderte mich heraus. Was ich mit anhören musste, trieb mir die Schamröte ins Gesicht.

Heute sehe ich das entspannter.

Die Übersetzerin für Gebärdensprache nannte der Alte gern „meine Blume“, manchmal „Schneewittchen“. Sie bekommt von mir die Farbe Grün.

Er fasste zitternd nach ihrem Haar, wenn er das „Sch-sch-wittchen“ stotternd herausbrachte, ein dünnes Haar, das schwarz wie Ebenholz glänzte und stark eingefärbt war.

Ich gebe zu, dass ich wegen meines eigenen, bis zu diesem Zeitpunkt langweiligen und ohne Höhen und Tiefen verplemperten Lebens neidisch auf den Alten mit dem schiefen Mund war. Und ich kam mir vor wie ein Voyeur, wenn sie am Tisch erzählten.

Diesen Diener-Dienst im Seniorenschloss hatte mir meine Therapeutin Beatrice eingebrockt. Ich sollte hier etwas übers Leben und über die Liebe lernen.

Die gehörlose Marie nannte er „Engelchen“ oder „Schmetterling“. Sie erschien mir im Spektrum des Regenbogens als die Gelbe, die es tatsächlich fertigbrachte, den Mund des Alten mit zwei Fingern gerade zu ziehen, wenn er herunterrutschte, und galant seine Schnabeltasse zum Durstlöschen zu führen.

Eine Pflegerin hatte das Engelchen einmal im Zimmer des Alten erwischt, aber nicht wegen Demenz und weil sie sich etwa verirrt hatte. Sie lag im Bett des Alten und streichelte mit tupfenden Fingern das runzlige Gesicht.

Das waren Begebenheiten, die mich konfus und sprachlos machten. (Niemand streichelte damals mit dieser Hingabe mein Gesicht!)

Und die andere mit dem Namen Mo, in Wirklichkeit hieß sie Monique, die selbst schon etwas wacklig auf den Beinen war, holte den Alten regelmäßig mit dem Rollstuhl ab, um mit ihm spazieren zu gehen.

Sie kamen übrigens nicht weit, weil der Weg zum Wald nach einer Kurve steil hinaufführte. Eines Tages wurde ich Zeuge, dass sie es doch geschafft hatten, so mühsam der Weg war, und nur, um sich an der Waldgrenze da oben für eine Weile auf eine Bank zu setzen. Irgendwie musste sie, der ich die Farbe Rot im Regenbogen gebe, es fertiggebracht haben, ihn auf diese Bank zu hieven. Da saßen sie nun und hielten Händchen. Zufall oder nicht, der Rollstuhl des Alten schoss ohne ihn in rasanter Fahrt den Berg wieder hinunter. Vielleicht hatten sie ihm auch einen Schubs gegeben. Das traue ich ihnen zu. Er lächelte, als ich mit Helfern kam, ihn wieder zu bergen und nach unten zu bringen.

Warum taten sie das alles für ihn, fragte ich mich verdrossen.

Es musste an ihrer gemeinsamen Tangoobsession liegen. Mo, die noch am klarsten im Kopf war, während der Alte wegen seines Schlagflusses nicht mehr sprechen konnte, erzählte immer wieder fantastische Geschichten aus dem Tangofieber Berlins, das sie wohl einmal, wie sie sich hier am Tisch zusammenscharten, gewaltig erfasst haben musste.

Ich kann mir vorstellen, wie Mo einmal in jüngeren Jahren ausgesehen hatte. Dieser Frauentyp wird alt, aber altert nicht. Das Silberhaar im Pagenschnitt wird sie einst genauso getragen haben. Der Mund, dachte ich, kann immer noch jugendlich flirten.

Ich sehe sie mit den Händen auf dem Tisch nach den seinen greifen.

Dabei stockte mir regelmäßig der Atem. Ich war zu diesem Zeitpunkt der Ansicht, so etwas könne nur in das Reich der Jugend gehören.

Sie nahm seine Hände, wie ich es vor mir sehe, immer ganz öffentlich. Nichts machte sie im Verborgenen. So war auch die Ehrlichkeit in ihrem Gesicht der Ausdruck ihres Charakters.

Aber was hatte sie bloß an diesem Alten gefressen? Ich verstand es nicht.

Da sich meine Neugier regte, denn ich ahnte bereits, dass alles, was ich hörte, mich selbst betraf, beginne ich mit dem über Monate erlauschten Bericht über jene Tischgespräche, deren aufmerksamer Beobachter und Zuhörer ich wurde. Außerdem habe ich zahlreiche Gespräche mit dem Alten über den Tango und über die Liebe protokolliert, um sie mit meiner Therapeutin auszuwerten.

 

„Igor?! Bringst du uns bitte noch einen Pfefferminztee? Und für Herbert? Was meinst du, Danae, mag Herbert noch einen Tee?“

Sie versuchten Herberts Wünsche zu erraten, der in die Luft stierte und heute sehr abwesend schien.

Marie nahm eine flauschige Feder, mit der sie seinen Handrücken streichelte. Das brachte ihn am ehesten in ihre Wirklichkeit zurück. Sie vermieden es, ihn in diesem Zustand anzusprechen. Dadurch konnte er unleidlich werden.

Maries Feder, die der Hauspapagei verloren hatte, vermochte ein Lächeln in sein Antlitz zu zaubern. Der Blick klarte auf und er antwortete auf Mos Frage nach dem Pfefferminztee: „Kakao mit ein bisschen Pfeffer!“

Nun sahen mich alle bedeutungsvoll an, denn ich war ihr Igor für diese kleinen, alltäglichen Wünsche und ihr Herbert hatte seit längerer Zeit endlich wieder gesprochen, ja sogar einen Wunsch geäußert. Dabei kam er mir just in diesem Moment wie eine Mumie vor, die sie durch Hexerei zum Sprechen gebracht hatten.

„Also drei Pfefferminz und einen Kakao“, fasste ich zusammen.

Während ich mich an der Theke um die Bestellung bemühte, hörte ich wieder, was sie sagten.

„Ja, Herbert, so forsch wie der Igor bist du damals auch über den Tanzboden gehuscht. Weißt du noch? Der Igor sieht dir ein bisschen ähnlich. Findest du auch?“

Die Frage war an Danae gerichtet. Sie lachte.

Herbert beugte sich nach vorn, um doch tatsächlich zu mir hinüberzusehen. Da dachte ich einen Augenblick, der Herbert ist ein Schlawiner, der seine Gebrechlichkeit bloß simuliert.

„Mo, ist es wahr, dass eure Geschichte auch mit dem Tango begann?“

Herbert war nun sehr aufmerksam. Man sah es an seiner Mimik. Er hob eine Hand, als wollte er etwas sagen. Aber er brachte es nicht heraus.

Mo strahlte ihn an. Sie war froh, wenn Herbert ihren Gesprächen folgte. Sie wollte ihn lebendig und noch so lange wie möglich für sich und ihre Tischgesellschaft behalten. 

„Möchtest du das noch einmal hören, Herbert, wie wir uns kennengelernt haben?“

So wie sie sich ansahen, war das hypnotisch, intim, und man spürte, dass sie sich in dieser Sprachlosigkeit schon oft begegnet waren. Rot wechselte nach Blau und umgekehrt, eine faszinierende Mischung. Es dauerte also eine Weile, bis Mo die Antwort auf ihre Frage ergründet hatte. Er sagte nichts, aber sie: „Gut, Herbert. Dann erzähle ich das noch einmal für dich.“

Ich brachte derweil den Pfefferminztee und Herberts Kakao zu ihrem Tisch, der so etwas wie das Podium einer Lebenskonferenz geworden war.

Da nahm Herbert plötzlich meinen Arm und wollte, dass ich mich dazu setzte. Viel zu flink für ein altes Mädchen verstand Marie, heute sein Schmetterling, diesen Wink und holte einen Stuhl für mich. Alle Aufmerksamkeit richtete sich auf die kleine Mo, die in das Berlin der 2020er tauchte. Sie holte die Erinnerungen aus ihrem Herzen und strahlte übers ganze Gesicht. Es gefiel mir, sie so beim Erzählen zu sehen. Alles war stimmig und ging mit der Art und Weise ihres Vortrags überein. Da wusste ich noch nicht, dass sie beinahe wörtlich aus ihrem alten Tagebuch zitierte und sämtliche Eindrücke aufleben ließ, worin sie sich jeden Abend vor dem Schlafengehen vertiefte.

Heben wir uns dieses Tagebuch der Monique etwas auf, bevor sie es uns für immer überlässt und wir es aufschlagen, blättern und nachlesen dürfen.

Außerdem passierten am Tisch gerade noch andere Merkwürdigkeiten, während Mo aus ihrem Fundus schöpfte.

Marie zog Herberts Mund in die richtige Position und Danae verdeutlichte der gehörlosen Freundin durch Gebärden, wohin Mos Erzählfaden führte. Sie tauschten also ein paar Gesten zur Verständigung aus und Danae unterbrach Mo an einer allseits bekannten, aber diesmal unlogisch vorgetragenen Stelle.

Ob sich Monique daran störte? Nein. Es lag nicht in ihrem Naturell, spröde zu werden.

Danae teilte nun mit lauter Stimme eine ebenfalls bekannte Tatsache wie eine frische Neuigkeit mit, die ihr Marie gerade lautlos berichtet hatte: „Marie hat geschwebt, als sie unseren Herbert kennenlernte. Geschwebt! Na ja, wir wissen, dass es im ‚Seitenblick‘ bei einer halb frivolen Tanzlustbarkeit geschah. Um Mitternacht haben sie Marie verschnürt und mit verbundenen Augen an einem Seil hochgezogen. Unbekleidet! Stellt euch das vor! Herbert, der früher als sonst gehen musste, wartete ihr vorsichtiges Herabschweben ab. Und dann! Mein Gott! Dann küsste er sie auf ihren Mund. Im Vorübergehen, vor aller Augen! Sie war noch gefesselt und trug eine Augenbinde. Blind erwiderte sie seinen Kuss. Da war etwas besiegelt.“

 

Damit ich nicht völlig in dem Kreis der Erzählerinnen untergehe, möchte ich hier als der, der den Überblick über ihre vielen Geschichten behält, etwas über mich sagen.

Dass ich Igor heiße, hatte ich schon erwähnt, dass meine Wurzeln in Russland liegen, erklärt sich von Namens wegen.

Ich muss einen Augenblick in den Vordergrund treten, weil meine Rolle als Tischhörer anderenfalls undurchsichtig bliebe.

Wo fange ich an? Am Anfang sicherlich nicht. Denn die Ereignisse, wie wir als Russlanddeutsche mit Hang zur deutschen Literatur und ziemlich verarmt nach Deutschland kamen, spare ich aus.

Zu den wertvollsten Besitztümern zählte damals noch ein geerbtes Knopfakkordeon, mit dem ich als Kind an der U-Bahn Alt-Tempelhof tatsächlich versuchte, ein paar Münzen für die Familie einzuspielen. Auf etwa drei bis vier Walzerstücke hatte ich mich spezialisiert und es damit zu einer beachtlichen Fingerfertigkeit gebracht. Für mehr reichte es nicht und ich war zu antriebslos, Noten zu lernen.

Mein Leben in Deutschland, wie ich das für mich definiere, begann mit einer Verkäuferin im Supermarkt, die ich als junger Mann kennenlernte. Ich betete sie an. Sie erwiderte mein Lächeln. Es war ihre Schuld, dass sich Lebensmittel aller Art in meinem Kühlschrank stapelten, weil ich immerzu an ihre Kasse im Supermarkt musste. Meine Einkäufe häuften sich. Eines Tages lud sie mich zum Kaffee in ein Bistro ein und so folgte ich ihr, als wäre ich ihr Entlein auf einem See, den sie allein überblickte.

Da war ich zwanzig. Jetzt habe ich die Vierzig überschritten. Die Jahre dazwischen kommen mir nebelhaft vor. Ich wüsste kaum etwas Wesentliches darüber zu sagen.

Wir haben uns getrennt.

Ich spare wieder die Einzelheiten aus, um mich nicht in einer anderen Geschichte zu verlieren.

Sie hat mich nach vielen Ermahnungen als Langweiler aus ihrem Leben entfernt. So ehrlich will ich wenigstens sein.

Davor stellte sich noch ein bedeutendes, in Glück gekleidetes Ungemach ein, das mich ebenfalls aus der Spur lenkte. Ich gewann nämlich eine siebenstellige Summe im Lotto und meinte, der Erste unter allen Glücklichen zu sein.

(Ich weiß, wie unwahrscheinlich das klingt. Dabei stelle ich immer wieder fest, dass es die Neider sind, die mir diesen Teil meiner Geschichte nicht glauben.)

Meinen Beruf als Ingenieur, mit dem ich schon immer auf Kriegsfuß stand, hing ich sofort an den Nagel. Ich wollte nun unabhängig und faul wie Oblomow sein.

Oblomow, diesen atemberaubenden Klassiker der russischen Literatur meine ich. Dieser Oblomow war auch so ein Fauler und daher stammt das geflügelte Wort von der „Oblomowerei“.

Gegen Anstrengungen wehrte ich mich mit Händen und Füßen. Vor allem für die psychischen und körperlichen Mühen in der Liebe hatte ich nichts übrig. Sie überforderten mich.

Deshalb zog ich mich eine Weile stolz auf meinen Lotteriegewinn zurück. Aber meine Frau beeindruckte die siebenstellige Sicherheit in Scheinen und Münzen nicht im Geringsten.

Nun kommt noch der peinliche und anatomische Teil meines Berichts: Ich war nicht in der Lage, sie sexuell zu befriedigen.

Ihrer Sehnsucht nach Zärtlichkeiten waren dagegen keine Grenzen gesetzt. Man hätte ein gefühlvoller Virtuose sein müssen, dieses zartbesaitete Instrument zu spielen. Sie hat meine Schwächen auf diesem Gebiet zuerst mit Verständnis quittiert, wollte mir sogar helfen. Deshalb suchten wir den Rat einer Paarpsychologin.

Die Sitzungen und angeleitete Kuschelwochenenden waren umsonst. Aus Bequemlichkeit machte ich alles mit. Aber ich bin kein leidenschaftlicher Mensch, kein Liebhaber und schon gar keine Gefühlskanone.

Mit meiner Impotenz wurde es schlimmer, je mehr sich meine Frau darum bemühte. Die Katastrophe bahnte sich an.

Als ich nach meinem Lottogewinn überraschend an Selbstbewusstsein und Männlichkeit gewann, meinte ich gönnerhaft, den Mangel meiner Libido durch Geschenke und teure Reisen bei ihr zu ersetzen.

Damit kränkte ich sie. Sie verfluchte mich, weil ich angeblich überhaupt nichts von Frauen verstand. Meine Impotenz sei ihr völlig egal, plauzte sie einmal heraus, wenn ich sie nur einmal bis auf den Grund lieben könnte und das irgendwie körperlich zeigte.

Irgendwie?

Da war ich sprachlos, weil ich zu dieser Zeit dachte, es ginge um dieses Ding, das steht oder nicht stehen kann. Oder ersatzweise um die Anlehnung an mein kleines, Unabhängigkeit versprechendes Vermögen. Für derartige Schlussfolgerungen verachtete sie mich.

Als wir einige Zeit später in Venedig einem Schriftsteller begegneten, der uns bei Kerzenschein in ein schönes Gespräch verwickelte, da wir mit ihm im Hotelrestaurant an einem Tisch saßen und eine Unterhaltung führten, an der ich mich kaum beteiligte, zog ich mich zeitig auf unser Zimmer zurück.

Am anderen Morgen ertastete meine Hand die Einsamkeit auf dem schneeweißen Laken. Ich begriff, dass sie mich verlassen hatte.

Sie war mit dem Schriftsteller durchgegangen.

Mein Leben rutschte weg unter meinen Füßen und auch mein Vermögen schmolz schneller dahin, als ich das für möglich gehalten hatte. Falsche Freunde saugten sich wie Blutegel daran fest. Als ich es merkte, war es zu spät.

Mein Leben befand sich an einem Wendepunkt.

Der Verlust meiner Frau und dann der meiner Sicherheiten stürzte mich in eine Krise.

Meine Geschlechtslust war auf ein Minimum herabgesunken. Ich befürchtete, nie wieder Ambitionen zu hegen, eine Frau kennenzulernen. Außerdem musste ich mich nach einem Job umsehen. Meine finanziellen Reserven waren verbraucht.

Bei der Therapeutin, die uns als Paar erfolglos, aber empathisch beraten hatte, suchte ich, weil mir niemand Besseres einfiel, so etwas wie eine Lebensberatung. Denn inzwischen war aus der Impotenz, über die ich klagte, ein seelischer Schaden geworden. Zu Beatrice fasste ich Vertrauen und redete und redete, während sie zuhörte, Stunden schrieb und abrechnete. Das war wie eine Blutwäsche. Ich bildete mir ein, alles, was in ihr Ohr drang, stieß auf ihr vorurteilsloses Verständnis und wurde gereinigt, geläutert und sauber an mich zurückgegeben, während ich auf ihrer Couch lag und manchmal ihre mütterliche Hand auf meiner Stirn oder auf meinem Brustkorb fühlte. Ich sprach über meine Verlorenheit und über meine Ängste, beneidete und hasste alle leidenschaftlichen und romantischen Liebhaber, mit denen sich einer wie ich immerzu vergleichen musste.    

Es dauerte eine Weile, dann fand ich heraus, dass man Beatrice Fragen stellen musste. Sonst blieb sie stumm. Einmal sagte sie etwas, wonach ich nicht gefragt hatte.

„Sie haben keine Ahnung von der Liebe. Aber das ist nicht schlimm. Man kann das lernen.“

Prompt fragte ich zurück: „Wie?“

Mir schwante, das war mit Anstrengungen verbunden. Aber ich war plötzlich bereit, reif wie ein Apfel, und sah sie erwartungsvoll an.

„Wollen Sie das wirklich wissen? Dann schicke ich Sie nämlich in eine Schule. Da müssen Sie aufpassen, mitschreiben und eine Menge Geduld haben.“

‚Wahrscheinlich‘, dachte ich, ‚ist das eine psychologische Metapher, nichts Handfestes also, oder nur ein Gedankenexperiment.‘

Ich setzte mich aufrecht. Die träumerische Schau nach Innen war erst einmal beendet.

„Eine Schule?“, fragte ich misstrauisch.

„Ein Schloss“, antwortete sie.

Mir fiel nichts Gescheiteres ein und ich dachte an ein überflüssiges Seminar in stilvoller, luxuriöser Schlossatmosphäre.

„Wie soll ich denn das bezahlen?“

„Durch den Dienst an alten Menschen, die dort zu Hause sind und Ihnen etwas über die Liebe und ihr Leben erzählen, das sie vom Ende her denken. Die Alten werden Ihnen sagen, was wirklich wesentlich war. Das ist wie eine Reise und übrigens ein überaus gut bezahlter Job. Ich kann Ihnen das nur empfehlen.“

„Und was muss ich da machen?“

„Dienen, zuhören, aufschreiben und mir berichten. Sie werden so etwas wie der Gesellschafter und Unterhalter ihrer erfahrenen 'Lehrerinnen und Lehrer' sein.“

Allmählich ließ ich mich darauf ein und wollte Genaueres wissen.

Es handelte sich um einen völlig neuen Wirkungskreis, den mir Beatrice versprach. Zu Hause fiel mir derweil die Decke auf den Kopf und ich stürzte von einer Depression in die andere. In dem seltsamen Seniorenschlösschen sollte ich nicht nur arbeiten, sondern auch ein eigenes Zimmer bewohnen. Ich würde das Experiment jederzeit abbrechen können. Andererseits gab es keine bessere Lebensberatung in meiner Situation als Erfahrungen aus der Praxis. Und Beatrice versicherte mir, dass die Senioren Geschichten über ihre Liebe gern weitergeben und erzählen. Es lag ihnen nichts daran, sie als Geheimnisse ins Grab mitzunehmen. Außerdem schimmerte in Beatrices Angebot das Interesse an einer weiteren therapeutischen Arbeit mit mir durch. Wenn ich mich geschickt anstellte, war ich Diener, Chronist der rätselhaften Schlossbewohner und Beatrices „psychologischer Spion“. Sie ließ durchblicken, dass sie die Bewohner des Seniorenstifts, mit denen ich zu tun haben würde, sehr genau kannte. Zusammengenommen war das für mich der ersehnte Platz in einem Rettungsboot und ich bewarb mich um diese Stelle.